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Post-Corona: Wertschöpfungsnetzwerke neu denken

ImpulsLetter Q2, 2020

Abstract

Die Corona-Krise führt zu ungekannten Herausforderungen für produzierende Unternehmen. Neben drastischen Umsatz- und Ergebniseinbrüchen legt sie offen, wie fragil weltumspannende und auf möglichst niedrige Kosten ausgelegte Lieferketten sein können. Durch die weltweit durchgeführten Shut-downs ist die Versorgung mit Zulieferteilen vielfach massiv gestört. Viele Unternehmen reagieren darauf, indem sie regional nahe Lieferanten suchen, auch wenn damit in der Zukunft höhere Kosten verbunden sind. Wie nachhaltig aber ist diese Entwicklung? Dieser Beitrag zeigt zunächst die aktuelle Notwendigkeit auf, Wertschöpfungsnetzwerke neu auszurichten. Im Folgenden wird kurz auf den Advyce-Ansatz zur strategischen Adjustierung von Wertschöpfungsnetzwerken eingegangen. Den Abschluss bilden unsere Einschätzungen zur Struktur von Wertschöpfungsnetzwerken in der Post-Corona-Zeit.

Die Corona-Pandemie zeigt die Verletzlichkeit globaler Lieferketten

In den vergangenen Jahrzehnten folgten produzierende Unternehmen bei der Optimierung ihrer Beschaffungskosten regelmäßig folgenden Handlungsmaximen: Zunächst weiteten sie ab den 1980er Jahren ihre Zulieferumfänge verstärkt aus. Durch die vielfach beschworene Konzentration auf die Kernkompetenzen des Unternehmens wurden nicht-strategische Wertschöpfungsumfänge auf externe Lieferanten übertragen. Primäres Ziel war die Ausnutzung regionaler (Arbeits-)kostenunterschiede, was zu einer zunehmenden Einbindung auch geografisch weit entfernter Lieferanten in das Wertschöpfungsnetzwerk („Offshoring“) führte. Risikoaspekte wurden dabei nicht vollständig ausgeblendet, rückten aber auf Basis eines grundsätzlichen Vertrauens in die Resilienz globaler Versorgungsströme deutlich in den Hintergrund. Durch die Corona-Pandemie, also einer Epidemie mit globalem Ausmaß, wurde jetzt unmittelbar deutlich, wie fragil weltumspannende auf minimale Kosten ausgelegte Lieferketten sein können.

Abbildung 1: Grundsätzlicher Zusammenhang der Gestaltung von Wertschöpfungsnetzwerken

 

Grundsätzlich sind bei der Gestaltung von Wertschöpfungsnetzwerken eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen

Die Gestaltung von Wertschöpfungsnetzwerken ist eine komplexe Optimierungsaufgabe, bei der Unternehmen eine Vielzahl von Einflussfaktoren sowie konkurrierende Ziele zu berücksichtigen und auszutarieren haben. Aktionsparameter sind der Entwurf des eigenen Operations Footprints, die Festlegung der Wertschöpfungstiefe sowie die Lieferantenstrategie und die konkrete Auswahl der Lieferanten.

Die Einflussfaktoren umfassen neben produkt- und fertigungsprozessspezifischen Anforderungen, Mengengerüsten und Kosten insbesondere vielfältige Aspekte der ländergrenzenüberschreitenden Geschäftstätigkeit (bspw. Handelsbeschränkungen oder local Content-Auflagen). Hier ist im Einzelfall festzulegen, welche Faktoren relevant und wie diese zu gewichten sind. Analog ist bei den zu verfolgenden Zielen entscheidend, welche konkurrierend und folglich gegeneinander zu gewichten sind:

  • Welches Set-up verursacht die geringsten Faktorkosten?
  • Welches Set-up verspricht die bestmögliche Ausnutzung von Größenvorteilen?
  • Welches Set-up gewährleistet eine optimale Kundenbetreuung durch räumliche Nähe?
  • Welches Set-up garantiert Lieferfähigkeit?

Insgesamt wird deutlich, dass ein optimales Set-up der Wertschöpfung jeweils nur unternehmensspezifisch gefunden werden kann und dieses regelmäßig überprüft werden muss. Das Erfordernis der individuellen Überprüfung ist in der aktuellen Corona-Situation besonders relevant. Ob und in welchem Umfang eine Anpassung des Wertschöpfungsnetzwerks sinnvoll bzw. notwendig ist, hängt von der spezifischen Ausgangssituation sowie der individuellen Neubewertung der strategischen Ziele ab.

Abbildung 2: Handlungsfelder und Maßnahmen

 

Für die Zeit nach Corona sind die bestehenden Wertschöpfungnetzwerke jetzt zu überprüfen und zielorientiert anzupassen

Die Corona-Krise führt zu unmittelbaren Belastungen für die Wertschöpfungsnetzwerke produzierender Unternehmen. Die nachfolgende Abbildung zeigt die kritischen Handlungsfelder und Maßnahmen in den Bereichen Operations und Einkauf nach unserer Einschätzung und Erfahrung sowie einige wichtige übergreifende Aspekte. Hier unterscheiden wir zwischen einer kurzfristigen sowie einer mittel- und langfristigen Wirksamkeit.

Kurzfristig gilt es Maßnahmen zu ergreifen, um die negativen Auswirkungen der Pandemie möglichst gering zu halten. Im Einkauf geht es insbesondere um die Transparenz über die Leistungs- und Lieferfähigkeit der aktuellen Lieferanten. Unternehmensintern muss der Wiederanlauf gestaltet und gleichzeitig der Gesundheitsschutz der Mitarbeiter gewährleistet werden. Da die zukünftige Entwicklung der Nachfrage nur schwer vorhersehbar ist, braucht es Konzepte, die ein dynamisches Anpassen der Kapazitäten ermöglichen.

Es ist jedoch davon auszugehen, dass die wirtschaftliche Situation post-Corona nicht strukturgleich mit der Situation prä-Corona sein wird (bspw. durch ein dauerhaft verändertes Konsumentenverhalten oder die stärkere Berücksichtigung von Risikoaspekten bei der Gestaltung von Lieferketten). Daher greifen die oben dargestellten, kurzfristig wirksamen Maßnahmen allein zu kurz, um die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens sicherzustellen. Die besondere Herausforderung ist, dass Art und Umfang dieser Strukturbrüche heute nicht vollständig prognostizierbar sind.

Ganz wesentlich wird aus unserer Sicht sein, die Resilienz des Wertschöpfungsnetzwerks insgesamt zu erhöhen. Dies umfasst insbesondere eine Überprüfung der eigenen Wertschöpfungstiefe, die Anpassung des Operations Footprints sowie eine entsprechende Veränderung der Lieferantenbasis. Sämtliche Maßnahmen in diesen Handlungsfeldern sollten sich an drei übergeordneten Zielen orientieren:

  • Aufbau von Redundanz
  • Steigerung der Agilität
  • Geografische Konsolidierung

 

ADVYCE greift bei der strategischen Adjustierung von Wertschöpfungsnetzwerken auf ein bewährtes Modell zurück

Strukturelle Veränderungen von Wertschöpfungsnetzwerken sind immer ein komplexes Unterfangen. Umso wichtiger ist es, mit einem bewährten Ansatz ein systematisches Vorgehen zu gewährleisten und damit Risiken zu minimieren. Der ADVYCE-Ansatz gliedert sich in drei wesentliche Phasen.

Ausgangspunkt ist die kompakte Erreichung von Transparenz über die veränderte Situation durch ein standardisiertes Analysevorgehen. Dabei sind sowohl unternehmensinterne Faktoren zu berücksichtigen als auch Aspekte der aktuellen Lieferantenbasis. Die Konzeptentwicklung knüpft an die spezifische Ausgangssituation sowie die strategischen Ziele des Unternehmens an. Hier ist insbesondere zu prüfen, inwiefern veränderte Unternehmensziele eine Adjustierung der Ziele für die Gestaltung des Wertschöpfungsnetzwerks nach sich ziehen. Das Zielkonzept des Wertschöpfungsnetzwerks umfasst neben dem veränderten Operations Footprint auch eine damit konsistente Veränderung der Lieferantenbasis. In der Umsetzungsplanung adressieren wir erfahrungsbasiert die kritischen Erfolgsfaktoren und schaffen so die risikominimierenden Voraussetzungen für die Erreichung des Ziel-Set-ups.

Abbildung 3: ADVYCE Vorgehensmodell

 

Ein Beispiel aus der Elektronikindustrie zeigt, wie durch eine Anpassung der Lieferantenbasis die Resilienz des Wertschöpfungnetzwerks gesteigert werden kann

Unser Kunde mit zwei Standorten in Deutschland versorgt insbesondere europäische Kunden aus verschiedenen Branchen mit elektromechanischen Systemen (bspw. kundenspezifischen Stromverteilungslösungen). Vorelemente wurden bisher in wesentlichem Umfang aus Asien bezogen. Da die kurzfristige Lieferfähigkeit einen strategischen Erfolgsfaktor darstellt, hat man bereits in der Vergangenheit mit vergleichsweise hohen Lieferbeständen agiert. Dies erwies sich bisher in der Corona-Krise als großer Vorteil, denn Lieferengpässe konnten weitgehend vermieden werden.

Die Produktion einiger kritischer Lieferanten in China ist inzwischen wieder nahe dem Vorkrisenniveau, dennoch zeigt sich das temporäre Aussetzen der Produktion dort jetzt mit Verzögerung in Form von deutlichen Stockungen auf der Beschaffungsseite des hier betrachteten Unternehmens. Ferner sind insbesondere Fracht- und Logistikkosten aus Asien so stark gestiegen, dass die Lieferantenbasis strategisch auf den Prüfstand gestellt wird.

Gemeinsam mit dem Unternehmen haben wir für alle wesentlichen Materialgruppen eine Analyse der regionalen Beschaffungsstruktur vorgenommen. Da eine weitere Ausweitung der Lagerbestände nicht wirtschaftlich ist, wurden für kritische Materialgruppen alternative Beschaffungsquellen in Osteuropa identifiziert. Als Kernergebnis des Projekts wurde ferner eine Strategie der selektiven Rückwärtsintegration entwickelt. Diese sieht vor, dass zukünftig statt dem Bezug ganzer Baugruppen die dafür notwendigen Komponenten beschafft und in eigener Montage verbunden werden.

 

Advyce Point of View: 7 Thesen zur Struktur von Wertschöpfungsnetzwerken in der Post-Corona-Zeit

  1. Post-Corona Wertschöpfungsnetzwerke werden lokalisierter gestaltet sein

Als Folge der Neubetrachtung von Wertschöpfungsnetzwerken erwarten wir eine stärkere Lokalisierung der Wertschöpfung. Hiermit meinen wir eine deutlich höhere Konzentration der Wertschöpfung vor Ort nahe den Schlüsselmärkten: in der eigenen Wertschöpfung wie auch im Sourcing. Das sind typischerweise: Europa, Nordamerika und China, doch regelmäßig darüber hinaus auch weitere Märkte. Das Effizienzprimat wird zugunsten von Resilienz in der Wertschöpfungskette aufgeweicht werden. Die wichtigste Konsequenz dieser Neubetrachtung: die Diskussion des Operations Footprints.

  1. Globalisierung am Ende? Im Gegenteil! Doch neu aufgelegt, mit lokaleren Präsenzen und intensiver virtueller Kollaboration

Die Fähigkeiten multinationaler Unternehmen werden für alle dinglichen Prozesse mit autonomerer, also verstärkter lokaler Präsenz untermauert werden. Gleichzeitig werden die Know How- und Führungsprozesse zunehmend in den virtuellen Raum verlagert und mehr denn je ortsunabhängig gelebt werden. Hierzu haben wir alle in der Lockdown-Phase viel gelernt und breite Überzeugung gewonnen.

  1. Kompetenzmanagement: wird DER Schlüsselerfolgsfaktor im neuen Set-up der Rollen

Die Verschiebung der Wertschöpfungsrollen im neuen globalen Kontext wird eine Neubetrachtung und -ausrichtung von Kompetenzen und Rollen in regionaler Sicht erfordern. Dies ist hervorzuheben, da die Ausbildung von Kompetenzen ein langwieriger und anfälliger Prozess ist. Erfolgreich wird sein, wer solide Strategiearbeit in tragfähige Konzepte überführen und wirksam umzusetzen vermag.

  1. Deutschland: Digitalisierung & Automatisierung werden einen Schub erleben

Als Folge von Rückverlagerungen nach Europa und Deutschland werden die hier zu schaffenden Wertschöpfungssysteme maximal effizient sein müssen – da stets zu vergleichen mit der Niedriglohnoption. Somit sind Wertschöpfungssysteme gefragt, optimiert für das Hochlohnland Deutschland. Hierdurch angetrieben werden Digitalisierung, Automatisierung wie auch neue Arbeitsmethoden einen deutlichen Schub erhalten.

  1. Insourcing: die Homebases werden verstärkt werden

Der Downturn wie das Bedürfnis nach Stabilisierung und Beherrschbarkeit der Wertschöpfungskette werden ganz natürlich zu Insourcing führen. Neben „vertikal“ kann dies auch „horizontal“ erfolgen. Der Antrieb dieses Prozesses ist eminent, da er die Konzentration der Wertschöpfung unterstützt und somit gleichzeitig ein „Turbo“ für eine Marktbereinigung sein wird. Dieser Prozess unterstützt die starken, finanzkräftigen Marktteilnehmer.

  1. Beschaffungsstrategien werden neu gedacht und lokale Beschaffungsmärkte gestärkt werden

Die Lokalisierung der Wertschöpfung wird auch zur Stärkung lokaler Sourcings führen – zumindest innerhalb desselben Kontinents. Transkontinentale Zulieferungen werden abnehmen. Beschaffungsstrategien werden zudem stärker auf Beschaffungsalternativen ausgerichtet werden („Dual / Triple Sourcing“).

  1. Der Markt der Transportlogistik wird weiter wachsen, doch im regionalen Rahmen – Long-Hauls werden abnehmen

Der kontinentale Transport wird weiterhin wachsen – Straße und Schiene werden die wichtigen Verkehrsträger sein. Interkontinentale Transporte via Schiff und Flug werden abnehmen. Das Frachtaufkommen, insbesondere im regionalen Bereich, wird deutlich steigen – besonders angetrieben durch die zunehmenden Auslieferungen bis zum Endkunden.

Abbildung 4: ADVYCE Thesen zur Struktur von Wertschöpfungsnetzwerken in der Post-Corona-Zeit

Ausblick

Wir sind der Überzeugung, dass die Auswirkungen der Corona-Krise nicht ausschließlich kurzfristiger Natur sind, sondern dass Wertschöpfungsnetzwerke in der Zukunft deutlich anders aussehen werden als in der Vergangenheit. Im Kern erwarten wir eine stärkere Berücksichtigung von Risikoaspekten, die zu einer zunehmenden regionalen Konzentration in Form der Triadisierung und Lokalisierung von Lieferketten führen wird. Die hiermit einhergehende zielorientierte und wirksame Anpassung des Wertschöpfungsnetzwerks wird eine Kernaufgabe des Top Managements produzierender Unternehmen sein.

Stefan Hecht und Dr. Michael Staudinger

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